Mit den sich zuspitzenden Krisen der letzten Jahre hat sich auch die Nachfrage nach alternativen wirtschaftspolitischen Ansätzen erhöht. Wäre ein Gaspreisdeckel oder direkte industriepolitische Eingriffe vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen, liegen solche Politiken nun längst als legitime Optionen auf dem Tisch. Grund genug für die Alumn* des Netzwerk Plurale Ökonomik, bei der diesjährigen wissenschaftlichen Tagung in Bamberg eine Bestandsaufnahme des pluralen Diskurses und eine Strategiediskussion für die nächsten Jahre zu versuchen. Das Treffen der Alumn* 2023 fand dementsprechend am 2. und 3. Oktober unter dem Titel “Pluralist economics beyond ‘anything goes’” statt.
Mit einer Rekordzahl von mehr als dreißig Teilnehmenden aus drei Kontinenten von Masterstudierenden bis zu Assistant Professors war das Interesse an ökonomischem Pluralismus auch dieses Jahr ungebrochen hoch. Entsprechend konnte sich der Workshop in seiner vierten Ausgabe als feste Institution im pluralen Kalender etablieren. Erstmalig fand auch eine Keynote von Professor Mishael Milaković (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) zu Komplexitätsökonomik statt, in der er die lange Geschichte des komplexitätsökonomischen Ansatzes darlegte und seine eigenen Forschungsbeiträge zur Stabilität und Ergodizität von Profitraten auf Unternehmensebene in Raum und Zeit vorstellte. Wie er ebenfalls in seiner Keynote betonte, darf sich Plurale Ökonomik inklusive der Komplexitätsökonomik nicht nur als Gegenmodell zu einer vermeintlichen Orthodoxie verstehen, sondern muss eigene Lösungen für die ökonomischen Probleme unserer Zeit liefern. Die auf dem Workshop vorgestellten Forschungsprojekte erfüllten diese Anforderung: Das Themenspektrum der sechzehn Einzeltalks reichte von methodologischen Fragen über Sozioökonomik, ökonomische Planung, Innovation und Ungleichheit bis zur aktuellen Debatte um Inflation und ihre Ursachen. Die Vorträge waren thematisch aufgeteilt in verschiedene Panels, mit
- einem Panel zur Methodologie, bestehend aus einem Vortrag zu einer Neuausrichtung des Gleichgewichtsbegriff hin zu einem probabilistischen Konzept, angelehnt an die klassische Schule der Nationalökonomie (Jan D. Weber, Universität Duisburg-Essen), einem Vortrag zu sich überlappenden Identitäten und Diskriminierungsformen am Beispiel Indiens (Indian Institute of Management Kozhikode, UNU-WIDER) sowie einem Vortrag zu einer an konkreten Fragestellungen ausgerichteten Methodologie für Plurale Ökonomik (Florian Rommel, Cusanus Hochschule und Goethe-Universität Frankfurt),
- einem Panel zu ökonomischer Ungleichheit und Sozioökonomik mit einem Vortrag zur problematischen Definition von Intersektionalität und dessen empirischer Operationalisierung (Caleb Agoha, Universiteit van Amsterdam), einem Vortrag zu den Auswirkungen von Institutionen und Rechtssystemen auf makroökonomische Variablen (Bernadette Louise Halili, Universidad del Pais Vasco) sowie einem Vortrag zu konfligierenden Ansichten zur globalen Einkommensungleichheit und ihren statistischen Hintergründen (Arthur Zito Guerriero, Universität Duisburg-Essen),
- einem Panel zu Inflation und monetärer Makroökonomik mit einem Vortrag zu systemrelevanten Preisen in Produktionsnetzwerken (Leonhard Ipsen, Otto-Friedrich-Universität Bamberg) und einem Vortrag zu den kontraktiven Effekten von aggregierten Preisschocks in einem Kaleckianischen Modell (Simon Grothe, Université de Genève),
- einem Panel zu Ökologischer Ökonomik, Strukturwandel und Innovation mit einem Vortrag zu geistigem Eigentum und Klimatechnologietransfer und -innovation in Entwicklungsländern (Kerstin Hötte, Alan Turing Institute) und einer Kaldorianischen Modellstudie zu Strukturwandel und Bodenrenten (Isha Gupta, Ramanujan College, University of Delhi und Jawaharlal Nehru University),
- einem Panel zu Finanzmärkten und ökonomischer Planung, mit einem Vortrag zu nicht-pekuniären Renditen in einem Bürger*innenfonds (Mads Hansen, Economic Policies for the global transition – Erasmus Mundus Joint Master’s Degree), zur Planbarkeit von Innovation und nicht-kapitalistischen Wirtschaften (Nils Rochowicz, Technische Universität Chemnitz) und zur unklaren Definition von spekulativen Blasen und deren Implikationen für Finanzmarkttheorie (Anja Janischewski, Technische Universität Chemnitz),
- und einem abschließenden zweiten Panel zu besonderen Anwendungsfällen im Themengebiet Ungleichheit und Sozioökonomik mit einem Vortrag zu den Auswirkungen von Fehlwahrnehmungen auf Wahlverhalten und Umverteilung (Daniel Mayerhoffer, Universiteit van Amsterdam), einem Vortrag zu den Determinanten des Migrant Wealth Gaps entlang der Vermögensverteilung (Rudolf Faininger, Universität Siegen) und einem Abschlussvortrag zu Ungleichheiten im Zugang zur Gesundheitsversorgung auf dem afrikanischen Kontinent (Ndirangu Ngunjiri, University of Nairobi).
Die Initiatorin des Workshops und auch diesjährige Mitorganisatorin Kerstin Hötte meinte dazu: “Die Vielfalt und Qualität der vorgestellten Arbeiten und lebendigen Diskussionen auf hohem Niveau waren wirklich herausragend. Das deutet auf eine spannende wissenschaftliche Zukunft der Pluralen Ökonomik hin, mit dem Potenzial wertvolle und innovative Beiträge zu aktuellen wirtschaftspolitischen Debatten zu liefern.”
Erstmals fand zudem im Rahmen der Tagung ein Idea Consolidation Workshop für Forschungsideen im Entwicklungsstadium statt. Die acht Ideen wurden von allen Teilnehmenden in Kleingruppen intensiv diskutiert und ausgebaut. Auch in der kommenden Ausgabe soll ein solcher Workshop wieder stattfinden. Näheres dazu erfahrt ihr Anfang des kommenden Jahres über die üblichen Netzwerkkanäle. Bei Fragen könnt ihr euch auch gerne an pluralumn@posteo.de wenden.