Wie konnte es dazu kommen, dass die renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler*innen die verheerenden Dynamiken des Finanzsektors nicht rechtzeitig erkannten?

Ein Gastbeitrag von Joscha Krug, Julia Schmid und Henri Schneider.

Im Herbst des Jahres 2008 meldete Lehman Brothers Konkurs an, bis dahin eine der einflussreichsten Investmentbanken der Welt. Die Pleite sendete Schockwellen um den gesamten Globus. Das weltweite Finanzsystem kollabierte und stürzte die Welt in ihre größte Wirtschaftskrise seit den 1930ern. Mit einem Mal rückte die Wirtschaftswissenschaft ins Schlaglicht der Öffentlichkeit: Wie konnte es dazu kommen, dass die renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler*innen die verheerenden Dynamiken des Finanzsektors nicht rechtzeitig erkannten? Welchen Anteil hatte die Volkswirtschaftslehre an der Entstehung der Krise? Insbesondere die realitätsfernen Modelle der Volkswirtschaftslehre sind ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Zahlreiche Kritiker*innen warfen ihr vor, ihr verkürztes Verständnis von Ökonomik hätte zum Ausbruch der Krise beigetragen.

Forschung

Unter diesem Eindruck hat sich die Ökonomik durchaus weiterentwickelt. Die Zeiten, in denen Ökonom*innen wie Robert Lucas (2003), damaliger Präsident der American Economic Association, selbstbewusst verkündeten, das Problem makroökonomischer Krisen sei praktisch gesehen für die nächsten Jahrzehnte gelöst, sind einem kritischeren Selbstverständnis gewichen. Im Zuge dessen haben Ansätze, die vorher ein Nischendasein gefristet haben, wie die Verhaltensökonomik, die Risikoforschung oder die Komplexitätsökonomik, in den Wirtschaftswissenschaften vermehrt Beachtung gefunden. Diesen Theorien gemein ist, dass sie Annahmen wie perfekte Rationalität, akkurate Risikobewertung und eine fundamentale Gleichgewichtstendenz auf Märkten bis zu einem gewissen Grad relativieren. Offensichtlich nicht haltbare Annahmen über die Realität wurden damit angepasst. Diese Entwicklungen sind aber nicht Ausdruck eines grundlegenden Paradigmenwandels, sondern periphere Forschungszweige, die nur zu einem Teil in die fundamentalen Modelle integriert werden. Eine tiefgehende Reflexion der wissenschaftlichen Grundausrichtung hat allerdings nicht stattgefunden (Grimm et al., 2014).

Präferenzbasierte Nutzenoptimierung aus einer Perspektive des methodologischen Individualismus in quantitativ abstrakten Modellen bleiben weiterhin die einzig anerkannte Herangehensweise ökonomischer Theorie.

Eine Öffnung der Volkswirtschaftslehre gegenüber Methoden und Theorien, die nicht in diesen Rahmen passen, hat es kaum gegeben. Das enorme Potential, das eine größere methodologische Vielfalt – durch qualitative Analysen ebenso wie durch komplexere mathematische Modelle, die nicht auf finite Lösbarkeit angewiesen sind – bietet, wird nicht ausgeschöpft. Auch fruchtbare Erkenntnisse, die sich durch den Dialog mit anderen Disziplinen ergeben könnten – mit Ausnahme der Psychologie – werden meist außen vor gelassen, weil sie nicht in das gängige Paradigma der Ökonomik passen. Das ist umso erstaunlicher, da diese monoparadigmatische Ausrichtung offenkundig darin versagt hat, wirksam vor einer Finanzkrise zu warnen oder sie einzudämmen. Angesichts der bisher eher oberflächlichen Veränderungen der Ökonomik, steht zu befürchten, dass auch die aktuelle VWL, aufgrund ihrer Einseitigkeit kein zufriedenstellendes Instrumentarium für die Vorbeugung weiterer Finanzkrisen bereitstellt (Keen 2017).

Lehre

Doch selbst die positiven Entwicklungen in der Forschung, die Themen wie begrenzte Rationalität oder Herdenverhalten vermehrt ins Blickfeld nehmen, spielen in der Lehre nach wie vor nur eine Randrolle. In fortgeschrittenen Master- und PhD-Seminaren werden derartige Ansätze durchaus behandelt, in der ökonomische Grundausbildung sind sie jedoch kaum vertreten. Die internationalen Standardlehrbücher wie „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ von Mankiw und Taylor (2012) wurden nach 2008 zwar durchaus um Abschnitte zur Finanzkrise ergänzt. Diese beschränken sich in den allermeisten Fällen aber auf rein deskriptive Schilderungen und werden nicht in die fundamentalen Modelle integriert. So bleiben die Autoren beispielsweise davon überzeugt, dass man bei möglichen Reformen „jedoch sehr vorsichtig und wohlüberlegt vorgehen [sollte]. Es könnten ja auch positive Motivationen und erwünschte Resultate zerstört werden. Vielleicht genügen die vorhandenen Regeln ja tatsächlich, sofern alle Beteiligten sich danach richten […].“ (Mankiw & Taylor, 2012, S. 1023)

Aufbauend auf solchen Lehrbüchern werden viele zentrale Fragen des Finanz- und Bankensystems fahrlässig vereinfacht und zum Teil sogar im Widerspruch zu den realen Gegebenheiten erklärt. Dies ist etwa im Fall der Theorie des highly powered central bank money (Geldschöpfungsmultiplikator) die von der Bank of England selbst als realitätsfern bezeichnet wurde (McLeay et al. 2014).

Die Rolle des Geldes beispielsweise bleibt systematisch unterbeleuchtet: Zumeist wird es als neutrales Tauschmittel betrachtet, ohne theoretischen Raum für seine kaum zu kontrollierenden Eigendynamiken und Machtasymmetrien zu lassen. In einer solchen Betrachtung wird der Finanzmarkt auf sein theoretisches Idealbild eines reinen Dienstleisters reduziert, wodurch Spekulationsblasen, Crashs und darauffolgende Krisen kaum adäquat verstanden werden können. Tatsächlich basiert die Darstellung des Finanzsystems in der Lehre immer noch grundlegend auf einer verkürzten Version der Effizienzmarkthypothese. Trotz der historischen Evidenz immer wiederkehrender Finanzmarktkrisen, die schon von Minsky (1977) umfassend systematisiert wurde, werden weiterhin Modelle gelehrt, die auf der fundamentalen Annahme einer vollständig rationalen Einpreisung aller verfügbaren Informationen basieren (Peukert 2016). Zum Verständnis von ständig wechselnden Strategien, gegenseitig abhängigen Erwartungen oder adaptiven Märkten wird Wirtschaftsstudierenden kein funktionierendes Instrumentarium dafür an die Hand gegeben.

Implikationen

Wie schon MacKenzie (2003, 2006, 2007) nachweisen konnte, hat ökonomische Theorie eine unmittelbare und mittelbare Auswirkung auf ökonomische Praxis: wirtschaftliche Akteur*innen als soziale Wesen bleiben nicht nur passive Objekte einer Theorie, sondern richten ihr Handeln regelmäßig auch an neuen theoretischen Erkenntnissen aus. Dadurch dass Ökonom*innen einerseits oft Führungspositionen in Wirtschaft und Gesellschaft innehaben, andererseits aber auch für die wirtschaftliche Ausbildung künftiger Eliten hauptverantwortlich sind, entfaltet die Volkswirtschaftslehre zwangsläufig einen mittel- und langfristigen Einfluss auf tatsächliches ökonomisches Handeln. Im Falle des neoliberal turn diffundierte so die eindimensionale Betrachtung von Menschen als rationalen Akteuren auf effizienten Märkten (Effizienzmarkthypothese) aus der Wirtschaftstheorie hinein in die wirtschaftspolitische Debatte (Mirowski, 2013). Zahlreiche der bedeutendsten Ökonom*innen der Welt, wie zum Beispiel Friedman, Lucas und Greenspan, sprachen sich ab den 1980er Jahren dafür aus, wirtschaftliches Geschehen weitgehend den Selbstregulierungskräften des Marktes zu überlassen. Diese Überzeugung lieferte die Blaupause für die Lobbyanstrengungen von Finanzakteur*innen weltweit, die eine immer umfassendere Deregulierung, insbesondere des Finanzmarktes, durchsetzen konnten. Dies ermöglichte den Handel mit immer komplexeren Finanzprodukten gepaart mit exzessiver Kreditvergabe, was sich schlussendlich als die explosive Mischung für den Crash der Subprime-Blase erwies, die in der Folge die Weltwirtschaft ins Chaos stürzte (Favara & Imbs, 2015).

Plurale Ökonomik

Eine solche Entwicklung hätte durchaus verhindert werden können, wenn die Volkswirtschaftslehre auf eine breite Auswahl an Theorien und Analysemethoden zurückgegriffen hätte. Die monoparadigmatische Fokussierung der Ökonomik auf Modelle rationaler Individuen auf frei funktionierenden Märkten, führte in der Konsequenz zu einer immer weiteren Deregulierung der Finanzmärkte. Um sich nicht erneut in eine solche Sackgasse zu begeben, brauchen wir eine Vielfalt an theoretischen Herangehensweisen und empirischen Untersuchungen. Eine plurale Ausrichtung der Volkswirtschaftslehre schafft den Raum für eine derartige Vielfalt. So bietet etwa die Komplexitätsökonomik für die Analyse von Herdenverhalten und Interdependenzen eine deutlich bessere Modellierung als finite Gleichgewichtsmodelle mit einem repräsentativen Agenten. Die Feministische Ökonomik hingegen wirft das Schlaglicht auf die stereotypisch männlichen Verhaltensweisen unter anderem an der Wall Street, wie übermäßige Risikobereitschaft, Konkurrenzdenken und Eigennutz. Diese spiegeln sich insbesondere in der niedrigen Beschäftigungsquote von Frauen im Finanzsektor wider (Young 2009). Der Postkeynesianismus andererseits beschäftigt sich mit der adäquaten Integration des Finanzmarkts in die ökonomische Theorie: die Rolle fundamentaler Unsicherheit, öffentliche und private Schulden sowie Friktionen auf dem Finanzmarkt sind Kernelemente seiner systemischen Perspektive.

Theorieschulen wie diese können zu einem umfassenderen theoretischen Verständnis von Wirtschaft beitragen. Durch Theorien-, Methodenvielfalt und Interdisziplinarität und die daraus resultierenden gehaltvolleren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen kann die Wahrscheinlichkeit kollektiver Irrwege reduziert werden (Grimm et al., 2014). Eine pluralistische Herangehensweise kann sicherstellen, dass die Wirtschaftswissenschaft ihr gesamtes Potential ausschöpft, um eine weitere weltweite Finanzkrise zu antizipieren und zu bewältigen. Sie ermöglicht ein breiteres und umfassenderes Verständnis wirtschaftlicher Prozesse, welches der Realität näher kommt.

Der Frage, wie eine plurale Betrachtung von Finanzmärkten aussehen kann, gehen wir in zahlreichen Events im deutschsprachigen Raum auf den Grund. Als Teil einer europäischen Kampagne veranstalten wir Vorträge, Vorlesungsreihen, Podiumsdiskussionen und eine Sommerakademie unter dem Motto 10 years after the crash.

 

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Colander, D., Follmer, H., Haas, A., Goldberg, M., Juselius, K., Kirman, A., Lux, T. und Sloth, B. (2014): The financial crisis and the systemic failure of academic economics. The Economics of Economists: Institutional Setting, Individual Incentives, and Future Prospects, 21(2-3), 344.

Favara, G., und Imbs, J. (2015): Credit supply and the price of housing. American Economic Review, 105(3), 958-92.

Grimm, C., Kapeller, J. und Springholz, F. (2014): Führt Pluralismus in der ökonomischen Theorie zu mehr Wahrheit? Wissen, S. 147-163

Keen, S. (2017): Can we avoid another financial crisis? John Wiley & Sons.

Lucas, R. (2003): Macroeconomic Priorities. American Economic Review, 93(1), 1-14.

MacKenzie, D. A. und Millo, Y. (2003): Constructing a market, performing theory. The historical sociology of a financial derivates exchange. American Journal of Sociology 109, S. 107-145.

MacKenzie, D. A. (2006): An engine, not a camera. How financial models shape markets. MIT Press.

MacKenzie, D. A., Muniesa, F. und Siu, L. (2007): Do economists make markets? On the performativity of economics. Princeton University Press.

McLeay, M., Radia, A. und Thomas, R. (2014): Money creation in the modern economy.

Minsky, H. P. (1977): The financial instability hypothesis: an interpretation of Keynes and an alternative to „Standard“ Theory. Challenge, 20(1), 20-27.

Mirowski, P. (2013): Never let a serious crisis go to waste: How neoliberalism survived the financial meltdown. Verso Books, 27-88.

Peukert, H. (2016): Volkswirtschaftslehre als Indoktrination und die (Nicht-)Auswirkungen der Finanzkrise, in: Treeck van, T. und Urban, J. (Hrsg.) (2016): Wirtschaft neu denken – Blinde Flecken der Lehrbuchökonomie, S. 118-127.

Young, B. (2009): Globale Finanzkrisen und Gender. FEMINA POLITICA–Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 18(1).

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